Die Bundesregierung plant im Jahr 2026 die Einführung eines verpflichtenden Primärarztsystems in der ambulanten Versorgung. Hausärzte sollen dabei als erste Anlaufstelle dienen und Facharzttermine koordinieren, mit verbindlichen Zeitkorridoren („Termingarantie“) für Überweisungen. Auch digitale Ersteinschätzung (Hotline 116 117) und Telemedizin sind vorgesehen, um Wartezeiten zu verkürzen und vorhandene Ärztekapazitäten effizienter zu nutzen.
Gesundheitsministerin Nina Warken betont, dass dieses Modell gesetzlich und privat Versicherte gleichstellen und unnötige Arztbesuche vermeiden soll, ohne die Versorgungsqualität zu schmälern.1 Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) und der Bund Niedergelassener Kardiologen (BNK) begrüßen zwar das Ziel einer effizienteren Patientensteuerung, warnen aber vor Risiken und Fehlentwicklungen.2
In vielen Regionen in Deutschland verschärft sich einer Studie der BARMER und Bertelsmann Stiftung zufolge in den kommenden Jahren der Mangel an Hausärzten. Schon jetzt sind demnach bundesweit mehr als 5.000 Hausarztsitze unbesetzt. Bis 2040 kommen laut Studie weitere 1.300 hinzu.3 Das nährt Zweifel, ob die hausärztliche Basis eine erweiterte Lotsenfunktion stemmen kann. Ohne Entlastung drohe eine Überlastung der Hausärzte: In der Folge könnten Überweisungen oft ohne ausreichende Vorabklärung erfolgen, wodurch sich die Terminknappheit bei den Fachärzten weiter verschärft und die Versorgungsqualität leidet. Zudem bestehe ein Versorgungsrisiko durch verzögerte Diagnostik: Wenn Hausarztpraxen zum Flaschenhals werden, könnten dringende Fälle übersehen und zu spät erkannt werden – mit negativen Folgen für Krankheitsverlauf und Prognose.
Einen Hinweis darauf, wie wichtig regelmäßige kardiologische Betreuung ist, liefert ein Blick ins Ausland: in Frankreich sind sowohl eine Bürgerversicherung, als auch ein Primärarztsystem etabliert. Die Bürgerversicherung übernimmt dort im Schnitt etwa 75 % der Behandlungskosten, rund 90 % der Bevölkerung verfügen über eine ergänzende private Krankenversicherung. In einer aktuellen französischen Studie mit 655.000 Herzschwäche-Patienten war bereits ein jährlicher Kontrolltermin beim Kardiologen mit einer 6–9 % niedrigeren Ein-Jahres-Sterblichkeit assoziiert. Dennoch hatten 40 % dieser Patienten im erfassten Zeitraum überhaupt keinen kardiologischen Facharztkontakt. Zugleich zeigte sich, dass bei höherem Herzschwäche-Risiko häufigere Kontrollen (bis zu vier pro Jahr) nötig waren, um optimale Ergebnisse zu erzielen.
Daher betonen DGK und BNK, dass Patienten mit z. B. schwerer Herzschwäche, implantierten Herzgeräten oder komplexen Herzklappenerkrankungen eine kontinuierliche kardiologische Betreuung brauchen. Ein strikt verpflichtender Umweg über den Hausarzt würde in solchen Fällen keinen Mehrwert bieten, sondern zusätzlich die Hausärzte belasten. Für diese Gruppen müssten Ausnahmeregelungen und direkte Zugangswege zur Kardiologie im neuen System geschaffen werden.
Um die genannten Risiken aufzufangen, fordern DGK und BNK flankierende Maßnahmen. Hierzu zählen eine strukturierte Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit über digitale Tools, telemedizinische Angebote sowie die Delegation ärztlicher Aufgaben an speziell geschultes Assistenzpersonal.
Funktionierende Vorbilder existieren bereits: In Baden-Württemberg etwa wurde ein hausarztzentriertes Versorgungsmodell etabliert, das durch definierte Behandlungspfade, den Verzicht auf Budgetbegrenzungen und eine enge Kooperation zwischen Haus- und Fachärzten gekennzeichnet ist. Dieses Modell konnte sowohl die Behandlungsergebnisse bei Herzinsuffizienz und koronarer Herzkrankheit deutlich verbessern als auch Kosten einsparen. Ein zentrales Erfolgskriterium war dabei die Entbudgetierung aller Leistungen – nach Ansicht von DGK und BNK ein essenzieller Baustein auch für künftige Primärarztsysteme.
Auch in der öffentlichen Debatte wird das Primärarztmodell zwiespältig betrachtet. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken hebt zwar hervor, dass die Hausarztsteuerung zu schnelleren Terminen unabhängig vom Versicherungsstatus führen soll. Verbraucherschützer warnen allerdings vor neuen Engpässen: Ohnehin schon ausgelastete Hausarztpraxen könnten zum „Nadelöhr“ werden und noch längere Wartezeiten sowie mehr Bürokratie nach sich ziehen.4
Die Position von DGK und BNK spiegelt daher zugleich Zustimmung und Mahnung. Sie unterstützt die Ziele der Reform – eine besser gesteuerte und gerechtere Versorgung – fordert aber nachdrücklich Korrekturen ein, damit Herzpatienten und andere chronisch Kranke nicht zu Verlierern des neuen Systems werden. Entscheidend wird sein, dass das Primärarztsystem ausreichend flexibel und durch Ressourcen gestützt umgesetzt wird.
- Interview Nina Warken (Bundesgesundheitsministerin), Funke-Mediengruppe, zitiert nach WELT (Online) vom 28.07.2025 ↩︎
- BNK Kommentar: Norbert Smetak: „Die Kardiologie im Primärarztsystem“, in: Cardio News, Ausgabe 09/2025 (19. Sept. 2025) ↩︎
- BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung und Bertelsmann Stiftung, Hrsg. (2025): Zukunftsperspektiven für die hausärztliche Versorgung ↩︎
- Ramona Pop (Verbraucherzentrale Bundesverband), dpa-Interview, zitiert nach ZDFheute vom 27.07.2025. ↩︎